Die fünfte Sünde

Eine wissenschaftliche Studie kommt zu dem Schluss, Lügen sei zwar verpönt, im historischen Rückblick aber durchaus häufig gewesen.
Heutzutage, scheint mir, ist sie eher die Regel. Dass Politiker lügen, wird als Selbstverständlichkeit hingenommen. Genauso wie die aus dem Lautsprecher dröhnenden, aus der Lostrommel gezogenen Entschuldigungen der Deutschen Bahn.
Und wenn ich beim Onlinekauf das Häkchen vor die allgemeinen Geschäftsbedingungen setze und mich damit einverstanden erkläre, belüge ich mich sogar selbst. Wie sollte ich mit etwas einverstanden sein, dass ich nicht einmal gelesen habe. In der katholischen Kirche gilt Lügen als Sünde, die man beichten muss.

Ich war gerade neun Jahre alt geworden und sollte am zur Kommunion gehen. Die erste heilige Kommunion ist in der katholischen Kirche ein bedeutendes Ereignis. Erst damit wird man so richtig katholisch. Außerdem darf man zum ersten mal Jesus essen.
Während der Messe verwandelt der Pfarrer Brot und Wein in  Fleisch und Blut und schiebt es einem anschließend in den Mund. Das Brot. Den Wein trinkt er selbst.
Zur Kommunion gehen wollte ich damals unbedingt! Weniger wegen der kirchlichen Bedeutung des Festes, sondern vor allem wegen der Geschenke. Die Kommunion wird nämlich ganz groß gefeiert. Viele Verwandte kommen und bringen Geschenke mit, hauptsächlich Geld. Sogar die Sparkasse schenkte uns etwas. Ein Sparbuch! Fünf Mark als Startkapital für ein christliches Leben.
In unserer Klasse gab es einen richtigen Wettbewerb darüber, wer den wohl das Meiste bekäme. Seit Wochen spekulierten wir über die Zahl der Gäste, ihrer Finanzkraft und berechneten die zu erwartende  Summe. Chancen auf einen der vorderen Plätzen machte ich mir zwar nicht, Hoffnung auf eine üppige Beute aber schon.
Eine Hürde allerdings gab es. Wer zur Kommunion geht, muss  frei von Sünde sein. Frei von Sünde ist aber niemand. Frei von Sünde ist aber eigentlich niemand. Deshalb hat sich die Kirche einen Trick einfallen lassen: Die Beichte!
Man geht in die Kirche, verrät dem Pfarrer seine Sünden, drückt dem Sünder eine Buße auf (zum Beispiel: drei Vaterunser) und man ist sie los.
Im Mittelalter konnte man statt dessen Ablassbriefe kaufen. Wer so einen Brief besaß, konnte so viel sündigen, wie er wollte. Die Strafe war ja bereits erlassen!
Doch dafür hatten meine Eltern kein Geld. Und außerdem leben wir ja nicht im Mittelalter. An der Beichte ging also kein Weg vorbei!
Im Kommunionsunterricht, der uns auf das Ereignis vorbereitete, lernten wir, wie so eine Beichte ablief.
Am Beichtstuhl war eine kleine Lampe angebracht. Wenn sie aufleuchtete, war der Pfarrer bereit, die Beichte abzunehmen.
Wenn sie aufleuchtete hineingehen, sich hinknien, den Vorhang zuziehen, die Begrüßungsworte des Pfarrers abwarten und dann, nach der ausdrücklichen Frage des Pfarrers, die Sünden aufzählen: Ich habe…, ich habe …, ich habe... Und mit dem Satz zu schließen: Dies sind alle meine Sünden, ich bereue sie von Herzen.
Doch die Pünktchen erwiesen sich als Problem. Mindestens Fünf sollten es sein (Sünden, nicht Pünktchen). Das verlangte unser Lehrer. Und das war der Pfarrer höchstpersönlich.
Allzu viele Gedanken über Sünden hatte ich mir bisher eigentlich noch nie gemacht! Gleich Fünf fielen mir schon gar nicht ein. Ich suchte Rat. Im Katechismus, dem Buch, wo alles drin steht, was man zur wissen muss, wenn man ein richtiger Christ sein möchte, fand ich die sieben Todsünden:  Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit und Zorn. Da musste doch etwas bei sein.
Neid: Wie gern hätte ich auch eine elektrische Eisenbahn besessen, wie mein Freund Erich. Mit zwei Zügen! Eine  Diesellok mit vier Personenanhängern und eine kleine Dampflokomotive.
Denn Wäre es meine Eisenbahn gewesen, könnte ich den Personenzug steuern und müsste nicht immer mit der Dampflok vorlieb nehmen.
Für’s Fahren war das nicht schlimm, aber beide Züge mussten über die gleiche Kreuzung! Und da hatte ich gegen die schwere Diesellok keine Chance.
Habgier und Hochmut, die nächsten Todsünden sagten mir nichts. Auch mit Wollust konnte ich nichts anfangen. Zwar strickte meine Mutter, hatte also viel Wolle, doch was daran Sünde sein sollte, erschloss sich mir nicht. Außerdem war ich ja nicht meine Mutter.
Völlerei ging. Warum die drei Teller Schokoladenpudding zum Nachtisch am Ostersonntag eine Sünde gewesen sein sollten,  verstand ich zwar nicht so richtig,  – sie waren einfach nur lecker.
Jähzorn dagegen war ein Volltreffer. Niemand, der mich kannte, hätte das bezweifelt.
Einmal, als mir der Heinrich auf dem Nachhauseweg zum Dritten mal hintereinander ein Beinchen stellte, da hätten Sie mich mal sehen sollen! Bevor er überhaupt begriff was los war, bin auf ihn Los und plumps, lag er!
Bei der anschließenden Prügelei hab’ ich’s ihm ordentlich gegeben. Den Rest meiner Schulzeit ließ er mich jedenfalls in Ruhe.
Aus Trägheit ließ sich ebenfalls eine Sünde konstruieren. Mein Jammern beim Sonntagsspaziergang mit den Eltern (der war damals Pflicht), Meine Beine tun so weh, war zwar dem Umstand geschuldet, dass ich lieber Fußball gespielt hätte, doch die gleiche Müdigkeit überfiel mich auch, wenn meine Mutter mir das Trockentuch in die Hand drückte.
Das waren schon mal Vier! Eine fehlte noch. Bestimmt boten die Zehn Gebote etwas.
Schon das Erste passte! Du sollst nur an einen Gott glauben! Genau! Schon als Kind hielt ich Gott eher für eine Erfindung.
Doch kamen mir Zweifel. Konnte ich das wirklich beichten? Schließlich war Der Glaube an Gott war schließlich Bedingung, um zur Kommunion zu gehen.
Du sollst nicht töten, traf nur bedingt zu. Mücken und Ameisen zählten nicht. Ansonsten tötete ich nur an der Verbandstraße. Wenn wir Cowboy und Indianer spielten. Da konnte man sich so herrlich die Böschung hinunter rollen lassen, unten wieder aufstehen und den Angreifer erledigen!
Mit dem Siebten (Du sollst nicht stehlen), ließ sich was anfangen. Bei uns zuhause, ganz oben im Küchenschrank verbargen sich nämlich Süßigkeiten. Hinter einem Stapel Suppenteller versteckt, lagerten Bonbons, Gummibärchen und vor allem – Schokolade.
Hinter  den Suppentellern, die sich wie zur Tarnung dekorativ hinter der Glastür stapelten. Meine Mutter glaubte wohl, ich würde sie da nicht entdecken.
Wenn ich mir etwas gönnen wollte,  und das wollte ich oft, schob ich den Küchenstuhl an den Schrank, kletterte auf den schmalen Rand, der den unteren Teil des Schrankes vom Aufsatz trennte, öffnete die Tür und holte mir eine Süßigkeit heraus.
Klarer Fall von Diebstahl. Das war sie, die fünfte Sünde! Meiner Beichte stand nichts mehr im Wege. Hätte meine Mutter mir nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht!

„Aufstehn! Das Frühstück ist fertig!“ Eine Stimme riss mich aus den Träumen. Samt frisch gebügeltem Hemd stand meiner Mutter gut gelaunt im Türrahmen. „Hier, zieh das an! Damit du bei der Beichte heute Nachmittag vernünftig aussiehst.
Ohne die Augen zu öffnen an, schaute ich sie an, rieb mir den Schlaf aus den Augen und murmelte: „Die Beichte ist erst um Zwei. Vorher will ich mit Richard Fußball spielen. Wenn ich das Hemd jetzt anziehe, ist es heute Nachmittag nicht mehr sauber.“
„Da hast du auch wieder Recht!“ stimmte sie mir kopfnickend  zu. „Dann vergiss aber nicht, dich heute Mittag umnzuziehen.“

Als ich wenig später die Küche betrat, dampfte mir eine Tasse Kakao entgegen. Frische Brötchen lagen auf dem Tisch, flankiert von einem Glas Erdbeermarmelade (Schwartau). Und, der Bedeutung des bevorstehenden Festes angemessen, eine Packung Schokoladenstreusel!
Die hatte Papa mitgebracht. Aus Holland. Einmal im Monat fuhr er dorthin, um Zigaretten einzukaufen. Die waren dort viel billiger!
 „Wird ordentlich voll morgen“ Meine Mutter dachte sei Wochen nur noch an die bevorstehende Kommunionsfeier. „Erika und Tante Netta aus dem Spessart kommen jetzt doch. Opa holt sie vom Bahnhof ab. Sie schlafen in der Oskarstraße und kommen morgen früh direkt zur Kirche“. Dann trank sie einen Schluck Kaffee, und fragte nach einer etwas zu langen Pause beiläufig: „Ich will ja nicht neugierig sein. Aber welche Sünden wirst du heute Nachmittag denn beichten?“
Arglos trug ich ihr meinen Sünden vor. Genau so, wie ich sie im Beichtstuhl aufzusagen gedachte. „Und was hast du gestohlen“ , fragte sie, als ich fertig war.
Ich war völlig überrumpelt. Die Frage hatte ich nicht erwartet.
Um Zeit zu gewinnen widmete ich mich dem Brötchen, belegte es so dick mit Schokoladenstreusel, das die Hälfte davon auf dem Tisch landete und hoffte beim Aufpicken käme der rettende Einfall. Doch er kam nicht.
Kleinlaut gestand ich, dass ich mir ab und zu eine Süßigkeiten aus der Dose nahm.
„Na und?“ schüttelte sie den Kopf. „Das ist doch kein Diebstahl!“
„Aber sie gehören mir doch nicht.“
„Doch, natürlich! Schließlich sind wir eine Familie. Da gehört allen Alles.“
„Aber das Auto gehört ja auch Papa!“, versuchte ich meine fünfte Sünde zu retten. „Außerdem hast du gesagt, ich solle nicht soviel naschen!“  
„Stimmt ja auch! Zu viele Süßigkeiten sind ungesund“, ging sie erst gar nicht auf meinen Einwand ein. „Aber deshalb ist Naschen  lange noch kein Diebstahl.“
„Aber du hast es mir verboten!“
„Dann erlaube ich es dir hiermit ganz offiziell!“
Jetzt hatte ich den Salat! Die fünfte Sünde war plötzlich keine mehr! Eine Neu fiel mir auch nicht ein. Ich beschloss: Bis zum Nachmittag sollte Naschen eine Sünde bleiben.

Trotz der (verbotenen) Abkürzung über die Baustelle, saßen
meine Mitschüler bereits vollzählig auf den Bänken, als die Kirchentür mit lautem Donner hinter mir ins Schloss fiel.
Richard, der auch nicht viel früher gekommen war, drehte sich um und hielt mahnend den Finger vor den Mund. Die Beichte hatte bereits begonnen.
Der erste Konfirmand kniete bereits im Beichtstuhl, ein dreigeteilter Holzkasten, der an die Außenmauer der Kirche gequetscht war. In der Mitte, dort saß der Pfarrer, gab es einen Stuhl. Rechts und links daneben befand sich ein Brett zum Hinknien. Der Platz für die Sünder.
Der Reihe nach betrat einer von uns den Beichtstuhl, kam nach exakt zwei Minuten wieder heraus, suchte sich im Kirchenschiff einen Platz, sprach das auferlegte Bußgebet und entschwand erleichtert nach draußen in die Nachmittagssonne.
Endlich war auch ich an der Reihe. Noch bevor ich wirklich kniete, drang Gemurmel zu mir hinüber. (Latein war damals Sprache erster Wahl). Zu sehen war nichts. Die kleine Öffnung die mich vom Pfarrer trennte, war mit einem dunkel gefärbten Blatt Pergamentpapier zugeklebt. Dahinter war es stockdunkel.
Als endlich die Frage nach dem Grund meines Erscheinens kam, legte ich los: Ich war neidisch, ich war jähzornig, bei Völlerei passte der vorgegebene Satzbau nicht ..., ich war träge, ich habe gestohlen.
Nach jeder Sünde legte ich eine Pause ein. Lang genug, damit sie etwas gewichtiger erschienen, aber auch nicht so lang, dass der Pfarrer Gelegenheit bekam, nachzufragen.
Gerade wollte ich zum obligatorischen Schlusssatz ansetzen und mich als reuiger Sünder präsentieren, da passierte es. Durch das Pergament drang unüberhörbar die Frage: „Und was hast du gestohlen?“
So, als hätte es das Gespräch am Frühstückstisch gar nicht gegeben, schildere ich, wie ich mich heimlich aus der Süßigkeitendose bediene.
Was dann folgt, lässt sich kaum glauben! „Aber das ist doch kein Diebstahl!“, kommentierte der Pfarrer meine Ausführungen.
Mit den gleichen Argumenten, die meine Mutter wenige Stunden vorgebracht hatte, erklärte er mir, mein Naschen sei keine Sünde.
Ich wiederholte das, was ich am Frühstückstisch zur Verteidigung vorgebracht hatte – und bekam die gleichen Antworten.
Es kam mir vor, als spräche da nicht der Pfarrer, sondern meine Mutter selbst. Die Stimme warv eine andere, aber die Worte waren die gleichen. So als handle es sich um eine Tonbandaufnahme, bei der jemand die Stimme ausgetauscht hatte.
Hatten sie sich womöglich abgesprochen? Wollten sie mich prüfen, herausbekommen, ob ich wirklich reif für die Kommunion war. Schließlich war ich mit Abstand der Jüngste in meiner Klasse.
Ade Kommunion. Ich hatte den Pfarrer angelogen und war dabei ertappt worden.
Das Bild meiner Mutter entstand in meinem Kopf. Wie sie mit bleichem Gesicht vor den ahnungslos eintrudelnden Gästen steht und ihnen mitteilt: Die Kommunionsfeier fällt aus.
Meine Augen wurden feucht. Tränen kullern die Wangen hinunter. Ein etwas zu lautes Schluchzen verrät mich.
„Deshalb musst du doch nicht gleich weinen! Eine Sünde nicht begangen zu haben, ist doch ein Grund zur Freude! Und außerdem…“ Ich konnte nicht mehr an mich halten und weinte hemmungslos in die Pause hinein: „Es sollten aber doch fünf Sünden sein, dass haben sie doch selbst gesagt. Jetzt sind ist es aber eine zu wenig.“
„Nein, es sind immer noch Fünf“, widersprach er. „Sie heißt jetzt nur anders. Meine Tränen wichen einem ungläubigen Gesichtsausdruck. Lügen ist nämlich auch eine Sünde!“
Zur Buße gab er mir sechs Vaterunser auf!
Noch heute frage ich mich, ob es sechs waren, weil Lügen im Beichtstuhl doppelt zählt.

Jörn Wiertz, April 2025