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Aufbruch

Heribert stand auf, griff sich den Müllbeutel, warf die Reste seines Frühstücks hinein, zog die Jacke über, setzte den Rucksack auf und blickte sich noch einmal um. Hatte er auch wirklich nichts vergessen?
Um Acht käme das Unternehmen, das mit der Wohnungsauflösung beauftragt war, um Fünf die Putzfrau zu einer letzten Reinigung. Dann wären die Spuren seiner Vergangenheit beseitigt.
Leise betrat er den Hausflur. Sorgfältig verriegelte er die Tür.
Jahrzehnte der Enge blieben dahinter zurück: nicht auffallen, niemanden auf die Füße treten, sich in seine Rolle zu fügen. Er hatte gelernt auf alles Rücksicht zu nehmen, nur nicht auf sich selbst.
Genau vier Uhr und fünf Minuten. Von nun an würde sein Leben ein Anderes: frei sein, nach eigenem Willen gestalten und vorwärts in die Zukunft schauen. In welche, dass würde sich finden.
Heribert schlich durchs Treppenhaus. Ausgerechnet jetzt einem Nachbarn zu begegnen und neugierige Fragen beantworten zu müssen, darauf hatte er wirklich keine Lust.
Kühle Morgenluft empfing ihn an der Haustür. Er warf die Schlüssel in den Briefkasten, öffnete die Mülltonne und ließ den Abfall hineingleiten.
Dann stockte sein Atem. „Guten Morgen Herr Hansen!“ , donnerte es in sein Ohr. „Wo wollen sie denn hin, so mitten in der Nacht. Wollen sie sich verdrücken?“ Unverkennbar die Stimme seiner Lieblingsnachbarin.
Verzweifelt blickte er hinauf zu ihrem Fenster. Niemand zu sehen. Die Gardine verharrte bewegungslos in ihrer morgendlichen Unschuld. Nichts bewegte sich.
Ob sie herunterkäme um seinen Müllbeutel zu inspizieren: Nachsehen, ob die Abfälle vorschriftsmäßig sortiert waren.
Hastig schlich er sich fort. Erst als das Haus außer Sichtweite war, beruhigte sich sein Atem. Sekunden später.
 Geräusche alarmierten ihn. Mitten in der Nacht? Das Aufheulen eines Motors, leises schlagen einer Türe, Stille. Dann wieder von vorn. Immer der gleiche Rhythmus. Sie kamen irgendwo aus einer Nebenstraße.
Ach ja, der Zeitungszusteller auf seiner morgendlichen Runde.
 Auf der Hauptstraße verloren sich vereinzelte Autos. Die ersten Sonnenstrahlen lockten. Kein weiter Weg. Hinter der nächsten Biegung wartete schon der Bahnhof.
Ein knappes Dutzend Pendler verlor sich in der riesigen Halle. Bis auf den Zeitungskiosk waren die Geschäfte noch geschlossen. Der hatte die Neuigkeiten von Gestern im Angebot.
Heribert steuerte einen der Glaskästen mit den Fahrplänen an. Auf dem ersten Blick schien die Auswahl groß, reduzierte sich nach Abzug von S-Bahnen und Regionalzügen jedoch erheblich. Im Kleingedruckten verbargen sich weitere Einschränkungen. Verbindungen ins Ausland: Mangelware.  
Ein Blick auf die App machte die Sache nicht besser. Dreimal umsteigen nach Mailand, viermal nach Venedig und siebenmal nach Rom. Von den Fahrtzeiten ganz zu schweigen.
Er entschied sich für Venedig. Auf Gleis 16 würde es losgehen. Auf dem Bahnsteig angekommen, ging er zielstrebig bis ans vordere Ende. Dem Zug entgegen.
Ein riesiger Teppich lag ausgebreitet vor ihm. Das ganze Areal  war über und über mit Gleisen bedeckt. Unzählige Weichen verknoteten die Stränge zu einem unentwirrbaren Ganzen, dessen Sinn allenfalls zu erahnen war. Ein Schild warnte: Betreten der Gleisanlage verboten! Lebensgefahr!
Ganz hinten, dort wo sich die Schienen in einer sanften Kurve verloren, bildete sich ein Punkt, wurde zu einer gekrümmten Linie und wuchs im Näherkommen zu einem schnittigen Schnellzug heran. Das könnte er sein, sein Zug.
Unvermittelt wechselte er das Gleis, machte einen Schwenk nach rechts und einen nach links, verbog sich dabei wie eine Schlange. Dann wieder. Diesmal in die andere Richtung. So, als könne er sich nicht entscheiden.
Je weiter er sich näherte, desto langsamer wurde er. Ob er es bis zum Bahnhof schaffen würde?  
Ein neuer Punkte tauchte auf, wurde schnell größer und wuchs zur Konkurrenz heran. Von der Seite kommend, hielt er direkt auf seinen Zug zu. Ein Zusammenstoß schien unausweichlich. Erst im letzten Moment machten er einen Schwenk, bleib auf dem Nebengleis und überholten mit offensichtlicher Schadenfreude.
Fast lautlos schlich sich sein Zug heran, schien unbemerkt bleiben zu wollen und versuchte einen heimlichen Blick auf die Bahnsteige zu werfen.  
Ein paar Gleise weiter setzte sich ein Zug in Bewegung, warf sich zielstrebig ins Getümmel und verschwand urplötzlich zwischen den Gleisen.
Sekunden später tauchte an gleicher Stelle eine S-Bahn auf, erhob sich aus einem unterirdischen Tunnel und schien mit ihrem glänzenden Rot geradewegs der Hölle entkommen zu sein.
Sein Zug schaffte es tatsächlich. Endlos lange glitt er an ihm vorüber, gab schließlich ein letztes Quietschen von sich und stand still. Erwartungsvoll öffneten sich die Türen.

 Sollte er wirklich einsteigen?